Zum Prozessauftakt des bewaffneten Neonazi-Angriffs auf das AJZ Erfurt im Jahr 2016 erklärt die Opferberatung ezra: Verschleppte Verfahren und Straflosigkeit von Neonazis sind mitverantwortlich für die seit Jahren hohe Anzahl rechter Gewalttaten in Erfurt

Am Dienstag, dem 10.11.2020 um 9 Uhr, beginnt erst mehr als vier Jahre nach dem bewaffneten Neonazi-Überfall auf das Erfurter „Autonome Jugendzentrum“ im Mai 2016 der Gerichtsprozess am Amtsgericht Erfurt. Die Opferberatungsstelle ezra übt scharfe Kritik an der jahrelangen Verschleppung des Verfahrens und dass sich von den mindestens zehn Tätern nur noch zwei vor Gericht verantworten müssen. „Die Verschleppung von Ermittlungs- und Gerichtsverfahren und die Straffreiheit von Neonazis ist mit dafür verantwortlich, dass sich Erfurt seit Jahren an der Spitze der Statistik rechter und rassistischer Gewalttaten befindet“, erklärt Theresa Lauß, die zuständige Beraterin bei ezra. 

Am 05.05.2016 stürmten mehrere Neonazis rechte Parolen skandierend und mit Pfefferspray und Flaschen bewaffnet auf die sich im Hof des AJZ in der Vollbrachtstraße befindenden Menschen und attackierten diese mit Schlägen und Tritten. Im Juli 2017 betrat einer der Täter in Begleitung erneut die Räume des Jugendhauses und griff mit Verweis auf den Überfall des vergangenen Jahres erneut Personen an und verletzte sie zum Teil schwer. „Dieser Angriff reiht sich in eine Kontinuität rechter und rassistischer Angriffe, die wir schon seit Jahren in der Landeshauptstadt beobachten“, so Lauß zur Situation in Erfurt. „Umso weniger können die Betroffenen und Zeug*innen nun nachvollziehen, dass der Angriff erst vier Jahre nach der eigentlichen Tat verhandelt wird.“ Diese Problematik um verschleppte Verfahren beobachtet ezra seit Jahren, exemplarisch dafür steht der Angriff von Neonazis auf eine Kirmesfeier in Ballstädt 2014. Die Täter bleiben über Jahre straffrei und zudem wird es für Zeug*innen immer schwieriger, sich an das Tatgeschehen zu erinnern.

Das Gerichtsverfahren, welches bereits im April beginnen sollte, wurde aufgrund der Corona-Pandemie zusätzlich hinausgezögert. Zudem gab es während der Ermittlungen immer wieder Entscheidungen durch Behörden, die beispielsweise einen adäquaten Zeug*innenschutz unmöglich machten. Auch nach dem zweiten Angriff 2017 zeigte sich die Polizei nicht besonders sensibel: Statt von Anfang an gegen die Angreifer zu ermitteln, führten sie noch in der Tatnacht erkennungsdienstliche Maßnahmen gegenüber den Betroffenen durch. „So wurden Menschen, die wiederholt von rechter Gewalt betroffen waren, wie Täter*innen behandelt und mussten gegenüber der Polizei zum Beispiel auch Fragen zu ihrer politischen Haltung beantworten“, führt die ezra-Beraterin weiter aus. Das Verfahren zum zweiten Angriff 2017 wurde gegen die Täter mittlerweile eingestellt.

Auch gegenüber dem Großteil der Täter vom Angriff aus 2016, der nun verhandelt wird, gab es im Laufe der Zeit keine Ermittlungen mehr. So müssen sich von den ursprünglich mindestens zehn Angreifern nur noch zwei vor Gericht wegen gefährlicher Körperverletzung verantworten. „Die Enttäuschung darüber, dass der Tatbestand des Landfriedensbruchs nicht aufrechterhalten werden konnte und nicht alle Angreifer zur Rechenschaft gezogen werden, ist groß“ erklärt Lauß weiter. Umso höher sind die Erwartungen an ein angemessenes Urteil: „Die Betroffenen und auch wir erwarten nach mehr als vier Jahren ein klares Signal und die Anerkennung des politischen Tatmotivs. Es kann nicht sein, dass ein langes Verfahren am Ende vor allem den Tätern nützt und diese keine entsprechenden Konsequenzen erfahren.“ Dies ist umso wichtiger, wenn man z.B. die militanten Strukturen des Kollektiv 56 betrachtet, in denen sich die Angeklagten seit Jahren bewegen und aus denen heraus sie immer wieder vermeintlich politische Gegner*innen angreifen.

Für das Verfahren, das am Dienstag am Amtsgericht in Erfurt beginnt, sind bisher vier Prozesstage angesetzt. Aufgrund der Situation um COVID-19 gelten im Gericht entsprechende Maßnahmen des Infektionsschutzes. „Aufgrund der Beschränkungen ist nur eine geringe Anzahl an Zuschauer*innen im Verhandlungssaal erlaubt. Wir erwarten dennoch, dass das Gericht den Grundsatz der Öffentlichkeit respektiert und eine kritische und solidarische Prozessbeobachtung erlaubt“ so die Beraterin abschließend. Die Verhandlung wird am 12.11. sowie am 24.11. und 26.11. jeweils um 9 Uhr fortgesetzt.

ezra arbeitet in Trägerschaft der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM). Seit April 2011 unterstützt die Beratungsstelle Menschen, die angegriffen werden, weil Täter*innen sie einer von ihnen abgelehnten Personengruppe zuordnen. Finanziert wird die Opferberatungsstelle über das Bundesprogramm „Demokratie leben!“ und das Thüringer Landesprogramm für Demokratie, Toleranz und Weltoffenheit „DenkBunt“.