Es braucht einen Rettungsschirm für Opferberatungsstellen und Demokratieprojekte.
Nach den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen warnen die Opferberatungsstellen vor einem Flächenbrand politisch rechts, rassistisch und antisemitisch motivierter Gewalt. Im statistischen Durchschnitt zählte das Bundeskriminalamt seit Jahresbeginn 2024 täglich mindestens zwei politisch rechts motivierte Gewalttaten (318). Dabei sind insbesondere Geflüchtete, Menschen mit Migrationsbiografie und sogenannte politische Gegner*innen gefährdet – etwa demokratisch Engagierte, gewerkschaftlich Aktive sowie politische Mandatsträger*innen demokratischer Parteien. Dies zeigt auch eine Analyse der Opferberatungsstellen aus den Wahlkampf-Monaten.
„Viele Angegriffene, die von den Opferberatungsstellen unterstützt werden, fühlen sich angesichts der Mehrheitsverhältnisse in Landkreisen mit mehr als 40 bis 50 Prozent Zustimmung für die rechtsextreme AfD, existenziell bedroht“, sagt Andrea Hübler, Geschäftsführerin der Opferberatung Support der RAA Sachsen.
Die Täter*innen nehmen auch den Tod von Menschen bewusst in Kauf: Das zeigt sich etwa bei zwei Brandanschlägen auf Wohnhäuser mit überwiegend migrantischen Bewohner*innen in Altenburg (Thüringen) am 1. August 2024, bei einem versuchten Brandanschlag auf eine Gemeinschaftsunterkunft für Geflüchtete am 23. März 2024 in Regis-Breitingen (Sachsen) und beim Brandanschlag auf das Wohnhaus des thüringischen Kommunalpolitikers Michael Müller am 19. Februar 2024 in Waltershausen (Thüringen).
Rassistisch motivierte Täter*innen schrecken auch vor Angriffen gegen Kinder und Jugendliche nicht zurück. So wurde etwa in Dresden ein 6-jähriges Kind von einem 38-jährigen Mann am 30. August 2024 in einer Straßenbahn rassistisch beleidigt und geschlagen. Der Angreifer verletzte auch den Straßenbahnfahrer, der dem Kind zur Hilfe eilte. In Cottbus schlug ein erwachsener Mann am 30. April 2024 auf einen 16-jährigen Jugendlichen mit einer Eisenstange ein und beleidigte ihn rassistisch.
Aus den Umfrageergebnissen des Meinungsforschungsinstituts pollytix und der Princeton University zu Gewaltbefürwortung durch AfD-Wähler*innen wissen wir, dass mindestens 1/5 aller AfD-Sympathisant*innen Gewalt gegen Politiker*innen demokratischer Parteien und Geflüchtete als Mittel der Beeinflussung politischer Prozesse und zur Vertreibung von Geflüchteten befürwortet.
„Die Wechselwirkung zwischen der zutiefst menschenverachtenden, gewaltverherrlichenden Propaganda der AfD und der Normalisierung von rechten Ideologien, Rassismus, Antisemitismus und Demokratiefeindlichkeit in medialen und gesellschaftlichen Diskursen führt auch zu einer Legitimierung schwerster Gewalttaten. Dies stellt eine reale Bedrohung für individuell Betroffene ebenso wie für die demokratische Gesellschaft dar. Betroffene und Engagierte warnen schon seit Jahren davor“, sagt Franz Zobel von der Opferberatungsstelle ezra.
Als eine besonders gefährliche Entwicklung sehen die fachspezifischen Gewaltopferberatungsstellen die vielfach nachgewiesenen Verbindungen der rechtsextremen AfD zur militanten Neonazi-Szene. Diese zeigt sich zunehmend auch offen auf AfD-Veranstaltungen: Zuletzt beim AfD-Wahlkampfabschluss Ende August in Erfurt, wo auch die militante Neonazi-Kampfsportgruppe „Knockout-51“ willkommen war. Die Gruppe, die in erster Instanz als kriminelle Vereinigung verurteilt wurde, verübte brutale Angriffe auf politische Gegner*innen, Migrant*innen und Polizist*innen.
„Wir warnen davor, dass hier eine parteigebundene Schlägertruppe aufgebaut wird. Im Sinne der klassischen Neonazi-Strategie wird offen zum ‚Kampf um die Straße‘ aufgerufen. Damit könnten gezielte Angriffe und Anschläge auf politische Gegner*innen wie eine demokratische Zivilgesellschaft, Politiker*innen und Journalist*innen noch weiter zunehmen,“ sagt Franz Zobel von ezra.
Denn die neue Generation junger Neonazis, die in militanten Gruppen und Netzwerken organisiert ist, zeigt – etwa bei Angriffen am Ostkreuz in Berlin oder Dresden – eine hohe Gewaltbereitschaft. Auch das Ausmaß an Bewaffnung mutmaßlicher rechtsterroristischer Netzwerke unter Beteiligung von AfD Mandatsträger*innen – wie etwa im Reichsbürger-Netzwerk um Prinz Reuß – und eine Analyse zu gewalttätigen AfD-Funktionär*innen macht deutlich: Gewaltbefürwortung und -anwendung sind selbstverständliche Bestandteile rechtsextremer Strategien und Politik“, warnt der Dachverband der Opferberatungsstellen.
Beispielsweise auch in Sachsen u. a. in mehreren Brandanschlägen gegen geplante Flüchtlingsunterkünfte – z. B. am 20. Juli 2024 in Leipzig, wo auf eine Petition gegen die Unterbringung von 120 Geflüchteten im Stadtteil Thekla, am 20. Juli 2024 ein Brandanschlag folgte und im Oktober 2023 in Dresden-Klotzsche, wo bislang unbekannte Täter drei Brandanschlagsversuche auf ein ehemaliges Schulgebäude verübten, das zu einer Geflüchtetenunterkunft umgebaut werden soll.
„Schon jetzt führt das hohes Ausmaß an Bedrohungen und rechten Angriffen gegen vulnerable Communities– etwa gegen die Christopher Street Day Paraden in Bautzen, Eisenhüttenstadt oder gegen alternative Kulturfestivals und Einrichtungen wie in Zwickau – und der vielerorts mangelnde Schutz durch die Institutionen des Rechtsstaats dazu, dass Betroffene sich aus der Öffentlichkeit zurückziehen und die Zugänge zu alternativen, nicht-rechten Lebensmodellen und Kulturangeboten eingeschränkter sind,“ sagt Joschka Fröschner, Berater bei der Opferperspektive e.V. in Brandenburg.
Durch die veränderten Mehrheitsverhältnisse in Kommunen und Kreistagen nach den Kommunalwahlen sowie durch die Landtagswahlergebnisse sind jetzt sowohl vielerorts die Schutz- und Rückzugsräume für vulnerable Communities mit existenziellen Kürzungen bedroht als auch die Opferberatungsstellen.
“Von den demokratischen Parteien in Thüringen, Sachsen und Brandenburg fordern wir deshalb: Der Rechtsstaat muss den Schutz von Betroffenen vor rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt zur Priorität machen. Denn aus der Erfahrung mit dem NSU-Komplex und den rechtsterroristischen Gruppen in Sachsen und Thüringen wissen wir: Eine Kultur von Straflosigkeit entmutigt die Betroffenen und ermutigt rechte Gewalttäter“, sagt Andrea Hübler von der Opferberatung Support in Sachsen. „Landes- und Bundespolitik sind in der Verantwortung, die vielen Betroffenen nicht länger zu ignorieren und ihre berechtigten Ängste und Sorgen ernst zu nehmen“, betont Andrea Hübler von der Opferberatung Support in Sachsen.
Es braucht einen Rettungsschirm für die Opferberatungsstellen, Asyl- und Migrationsberatungen sowie zivilgesellschaftliche Demokratieprojekte, deren Abschaffung das erklärte Ziel der AfD ist.
„Dieser Rettungsschirm wäre ein klares Signal an die Betroffenen: wir lassen euch nicht im Stich und ermöglichen Euch weiterhin den Zugang zu der notwendigen Beratung und Unterstützung. Zur Beteiligung am Rettungsschirm rufen wir sowohl große Stiftungen, Unternehmen und Zivilgesellschaft als auch die demokratische Mehrheit und die Bundes- und Landesregierungen auf“, sagt Franz Zobel von ezra.