Im Nachgang zur Veröffentlichung der ezra-Jahresstatistik 2023 am 10.04.2024 wurden durch die fachspezifische Gewaltopferberatungsstelle eine signifikante Anzahl an Fällen rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Thüringen für das vergangene Jahr nachregistriert. Die Gesamtzahl der registrierten rechten Bedrohungen und Gewalttaten steigt damit von 147 auf 176 Fälle. Dies ist die zweithöchste Zahl, die seit Beginn des unabhängigen Monitorings durch ezra im Jahr 2011 in Thüringen erfasst wurde. Rassistische und antisemitische Gewalt erreichen sogar jeweils einen historischen Höchststand.
Dazu erklärt Franz Zobel, Projektleiter von ezra: „Die Höchststände in 2022 und 2023 lassen sich auf einen zunehmenden Rückhalt für rechte Gewalttaten in der Bevölkerung zurückführen. Dieser geht einher mit hohen Zustimmungswerten und Wahlerfolgen für die rechtsextreme Thüringer AfD. Wir befürchten eine weitere Eskalation in diesem Jahr, die nach den Landtagswahlen eine neue Stufe erreichen könnte. Immer mehr Menschen in Thüringen könnten davon betroffen sein, wobei es schon ausreicht, dass man einfach nicht rechts ist.“
In einer aktuellen Pressemitteilung des Dachverbandes der fachspezifischen Gewaltopferberatungsstellen (VBRG e.V.) warnen die ostdeutschen Beratungsstellen aus Brandenburg, Sachsen und Thüringen im Kontext der Landtagswahlen vor einer Ausweitung der Gefahrenzone für demokratisch und zivilgesellschaftlich Engagierte sowie Menschen, die aufgrund von rechten, rassistischen und antisemitischen Ideologien als Feindbilder markiert werden.
Mit 106 Fällen Höchststand rassistischer Gewalt in Thüringen
Von den 176 dokumentierten Fällen entfielen 106 auf rassistische Gewalt und Bedrohungen. Dies stellt einen Anstieg um 21 Fälle im Vergleich zu den bis April 2024 bekannten Fällen dar. Rassismus bleibt damit – wie auch in den Vorjahren – das Haupttatmotiv rechter Gewalt in Thüringen. Zudem wird ein historischer Höchststand erreicht. „Rassistische Positionen sind normalisiert und werden immer stärker entgrenzt. Das zeigt sich wiederholt in der aktuellen Debatte nach dem grausamen mutmaßlich islamistischen Anschlag in Solingen. Statt über dringend notwendige Maßnahmen zur wirksamen Bekämpfung des Islamismus zu sprechen, wird eine rassistische Scheindebatte geführt, die die Feindbildmarkierung gegenüber Geflüchteten weiter verstärkt. Der Schritt zu rassistischen Angriffen und Pogromen ist dann nicht mehr weit. Dass Rassismus dagegen, als eines der zentralsten Probleme im Freistaat, kaum ein Thema im Landtagswahlkampf ist, ist ein fatales Signal an die mindestens 210 Betroffenen rassistischer Gewalt in Thüringen allein im vergangenen Jahr“, macht Zobel deutlich.
Verdopplung antisemitischer Bedrohungen und Gewalttaten
Weiterhin alarmierend ist die Verdopplung der registrierten Fälle antisemitischer Gewalttaten im Jahr 2023: Die Zahl stieg durch die Nachmeldungen von sechs Fällen auf nunmehr 13 registrierte Fälle an. Dies ordnet sich in den generellen Anstieg antisemitischer Vorfälle in Thüringen ein, welchen die Kolleg*innen der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Thüringen (RIAS Thüringen) in ihrem Jahresbericht 2023 herausstellen.
Der ezra-Projektleiter führt dazu aus: „Das antijüdische Pogrom am 7.Oktober 2023 in Israel stellt eine Zäsur dar, die auch in Thüringen zu einer massiven Zunahme von antisemitischen Vorfällen geführt hat. Insbesondere israelbezogener Antisemitismus ist eine zunehmend akute Bedrohung für jüdisches Leben, der vielfach von bestimmten linken Gruppierungen ausgeht. Hinzu kommt ein von Antisemitismus geprägter Geschichtsrevisionismus, der von der rechtsextremen Thüringer AfD befeuert wird und regelmäßig in Bedrohungen und Gewalt umschlägt. Es braucht dringend mehr Solidarität mit den Betroffenen, den jüdischen Gemeinden und eine klare Abgrenzung gegenüber Antisemit*innen.“
Nachmeldungen als Bestandteil des Verlaufsstatistik -Monitorings
Das unabhängige Monitoring rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt der Beratungsstelle ezra wird als Verlaufsstatistik erfasst. Das bedeutet, dass Nachmeldungen fortlaufend möglich sind. Solche Nachmeldungen erreichen ezra neben der direkten Meldung durch Beratungsnehmende u. a. durch das Sichten Kleiner Anfragen auf Bundes- und Landesebene. Ein Großteil der Nachmeldungen für die Jahresstatistik 2023 stammt aus Kleinen Anfragen im Bundestag. Die Kleinen Anfragen wurden in diesem Jahr später gestellt und beantwortet. In den vorherigen Jahren lagen diese Erkenntnisse zumeist früher vor und konnten daher bereits in der Statistik berücksichtigt werden. Die Kleinen Anfragen, die zu den hohen Nachmeldungen für 2023 führten, erfragten zudem explizit Antisemitismus und Rassismus (Angriffe auf Geflüchtete) im Rahmen der politisch motivierten Kriminalität rechts – daher liefern sie keine Nachmeldungen zu Angriffen auf Grund anderer Tatmotive rechter Gewalt wie beispielsweise Queerfeindlichkeit oder Angriffe auf politische Gegner*innen.
ezra arbeitet in Trägerschaft des re:solut e.V. (Rundum engagiert: solidarische Unterstützung in Thüringen e.V.), einem selbstständigen Werk der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM). Seit April 2011 unterstützt die Beratungsstelle Menschen, die angegriffen werden, weil Täter*innen sie einer von ihnen abgelehnten Personengruppe zuordnen. Finanziert wird die Opferberatungsstelle über das Bundesprogramm „Demokratie leben!“ und das Thüringer Landesprogramm für Demokratie, Toleranz und Weltoffenheit „DenkBunt“.
Weiterführende Informationen
Pressemitteilung VBRG e. V. (2024). Landtagswahlen 2024: Es droht eine Ausweitung der Gefahrenzonen. Online verfügbar: https://verband-brg.de/landtagswahlen-2024-es-droht-eine-ausweitung-der-gefahrenzonen/.
Jahresbericht Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Thüringen (2024). Antisemitische Vorfälle in Thüringen 2023. Online verfügbar: https://www.idz-jena.de/fileadmin/user_upload/RIAS_Thueringen/Antisemitische_Vorfaelle_in_Thueringen_2022.pdf.
Deutscher Bundestag (2024). Kleine Anfrage 15.04.2024. Drucksache 20/11066. Online verfügbar: https://dserver.bundestag.de/btd/20/110/2011066.pdf. Deutscher Bundestag (2024). Kleine Anfrage 02.05.2024. Drucksache 20/11263. Online verfügbar: https://dserver.bundestag.de/btd/20/112/2011263.pdf.