Am 26. Februar 2021 kam es in Thüringen, Hessen und Sachsen-Anhalt zu großangelegten Razzien und Festnahmen gegen die Neonazi-Gruppierung „Turonen / Garde 20“, der Drogengeschäfte, Waffenhandel und Geldwäsche vorgeworfen wird. Durchsucht wurde u.a. das sogenannte „Gelbe Haus“ in Ballstädt (Landkreis Gotha), welches Teil der Infrastruktur der organisierten Neonaziszene in Thüringen ist. 2014 war dies Ausgangspunkt für den brutalen Angriff auf die Ballstädter Kirmesgesellschaft. Unter den Beschuldigten des aktuellen Ermittlungsverfahrens finden sich auch einige der Neonazi-Schläger von damals. Auch ein Rechtsanwalt aus Hessen, der einen der Täter im Verfahren am Landgericht Erfurt vertrat, sitzt in Untersuchungshaft.
„Seit sieben Jahren hoffen wir auf eine Verurteilung der Täter*innen, die vor unserer Haustür leben. Dass die Täter*innen nicht nur der gewaltbereiten Neonaziszene angehören, sondern auch in einem gefährlichen, hochkriminellen Milieu aktiv sind und dieses über Jahre ungehindert ausbauen konnten, ist beängstigend“, erklärt eine Betroffene des brutalen Neonazi-Angriffs in Ballstädt vom Februar 2014. Das Strafverfahren und das Handeln der Thüringer Justiz löst bei ihr nur Unverständnis und Enttäuschung über den Rechtsstaat aus. Ein weiterer Betroffener äußert wütend: „Es hat scheinbar nicht ausgereicht, dass wir aus dieser Szene heraus fast totgeprügelt wurden. Was muss erst alles passieren, damit Neonazis in Thüringen zur Rechenschaft gezogen werden?“
Obwohl die meisten Täter*innen aus dem Ballstädt-Verfahren bereits 2017 zu Haft- und Bewährungsstrafen verurteilt wurden, gibt es bisher keine rechtskräftige Verurteilung, da der Bundesgerichtshof das Urteil aufgrund von Formfehlern in der schriftlichen Begründung aufgehoben hatte. Erst kürzlich wurde bekannt, dass das Landgericht und die Staatsanwaltschaft Erfurt eine Neuverhandlung durch einen Deal abkürzen möchten, wodurch die Angeklagten mit Bewährungsstrafen davonkommen könnten. „Die Angeklagten hätten schon lange in Haft sitzen können, wenn das Landgericht Erfurt mit der nötigen Sorgfalt gearbeitet hätte. Die Verstrickung in die organisierte Kriminalität darf vom Gericht nicht ignoriert und muss im weiteren Verfahren berücksichtigt werden. Danach darf es spätestens jetzt keinen Deal zu Gunsten der organisierten Neonazis geben. Das Verfahren muss nun zügig mit einer angemessenen Verurteilung zum Abschluss gebracht werden“, erklärt Franz Zobel, Projektkoordinator der Opferberatungsstelle ezra.
„Die neuesten Enthüllungen belegen, wie einige der Täter*innen und ihr Umfeld während eines laufenden Verfahrens weitere schwerwiegende Straftaten begingen. Offenbar hatten sie nicht das Gefühl, die Thüringer Justiz könnte ihre kriminellen Machenschaften stören. Der Umgang der Thüringer Justiz mit neonazistischen Strukturen wird hier exemplarisch zu einer lebensgefährlichen Bedrohung“, führt Zobel weiter aus. Alarmierend für ezra sind die Waffenfunde und der Handel mit Waffen. Dazu macht Zobel abschließend deutlich: „Die Ermittlungs- und Justizbehörden in Thüringen sollten vor dem Hintergrund der rechtsterroristischen Morde in Halle und Hanau ihre Verantwortung im Umgang mit Neonazis schnellstens überdenken. Verschleppte Strafverfahren gegen extrem rechte Täter*innen wie nach dem Angriff in Ballstädt sind in Thüringen kein Einzelfall.“
ezra arbeitet in Trägerschaft der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM). Seit April 2011 unterstützt die Beratungsstelle Menschen, die angegriffen werden, weil Täter*innen sie einer von ihnen abgelehnten Personengruppe zuordnen. Finanziert wird die Opferberatungsstelle über das Bundesprogramm „Demokratie leben!“ und das Thüringer Landesprogramm für Demokratie, Toleranz und Weltoffenheit „DenkBunt“.