Entpolitisierung verharmlost die Tat: Thüringer Justizproblem zeigt sich im Urteilsspruch im Staatskanzlei-Prozess

Am heutigen Donnerstag, dem 30.03.2023, fiel nach 13 Prozesstagen das Urteil im sogenannten Staatskanzlei-Prozess am Landgericht Erfurt. Hier mussten sich die fünf mutmaßlichen Haupttäter des brutalen Angriffs vor der Staatskanzlei im Juli 2020 wegen Landfriedensbruch und gefährlicher Körperverletzung verantworten. Phillippe A. erhielt eine Haftstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten, Robin C. eine Haftstrafe von 2 Jahren und drei Monaten. Julian F. wurde zu einer Bewährungsstrafe von einem Jahr und drei Monaten, Robert B. zu einem Jahr auf Bewährung und Kevin J. zu einem Jahr und vier Monaten auf Bewährung verurteilt. 

Das rechte Tatmotiv sah das Gericht als nicht ausreichend geklärt an. Alle Angeklagten wurden vom Landfriedensbruch freigesprochen. 

Dazu erklärt Theresa Lauß, Beraterin bei ezra, der Beratung für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Thüringen: „Obwohl ein rechtes Tatmotiv am Anfang für Außenstehende vielleicht noch vage schien, hat der Prozess dazu geführt, mit jedem Verhandlungstag ein Puzzleteil zu einem großen, nun deutlichem Bild hinzuzufügen. Es ist unverständlich, dass das Gericht zum Schluss kommt, dass ein rechtes Motiv bei dem brutalen Angriff nicht ausreichend geklärt sei. Was braucht es dafür denn noch? Für uns als spezialisierte, professionelle Opferberatungsstelle ist klar, dass die rechten Ideologien der Täter tatauslösend und -begleitend gewirkt haben müssen.“

Bereits kurz nach der Tat wiesen öffentliche Recherchen darauf hin, dass einige Täter in organisierten, rechten Strukturen unterwegs seien und bereits einschlägig strafrechtlich in Erscheinung getreten sind. Zwei Angeklagte standen im letzten Jahr bereits wegen des rechten Überfalls auf Connewitz 2016 vor Gericht, beschrieben sich selbst und andere in der Tätergruppe u.a. als „rechts-national“. Die Betroffenen des Angriffs vor der Staatskanzlei seien teilweise durch entsprechende Aufnäher und Shirts als linke oder alternative Personen erkennbar gewesen. In Chatprotokollen, in denen zuvor auch volksverhetzende Inhalte gefunden wurden, gab es nach der Tat von Seiten der Täter mehrmals die Zuschreibung, die Betroffenen seien „Zecken“. Bereits im Vorfeld des Angriffs seien einige Angreifer laut Zeugenaussagen im Stadtpark unterwegs gewesen und haben rassistische Beleidigungen gerufen. Nach dem Angriff habe sich die Gruppe in einer rechten Szenekneipe aufgehalten. 

„Dass die Täter eine Abkehr von der rechten Szene konstruieren, gehört zu einer üblichen Strategie vor Gericht, die zur Strafmilderung führen soll. Das wirkt unglaubwürdig, wenn diese gleichzeitig weiterhin rechte und rassistische Inhalte auf sozialen Medien teilen oder sich in Funktionen auf einschlägigen Demos zeigen.“ konstituiert die ezra-Beraterin Lauß. Auch Betroffene wiesen mehrfach auf ein mögliches rechtes Tatmotiv hin.

Lauß führt weiter aus: „Ein rechtes Motiv zeigt sich nicht immer durch rechte Parolen während des Angriffs. Rechte Gewalt muss auch nicht geplant sein. Sie zeichnet sich auch durch Vorsatz bei Gelegeinheit aus. Irgendwann fasste die angreifende Gruppe einen gemeinsamen Tatentschluss. Beim Angriff vor der Staatskanzlei sprechen viele weitere Umstände für ein rechtes Tatmotiv. Rechte Gewalt dient dazu, dass Täter einen Raum für sich beanspruchen und Betroffenen deutlich machen: Ihr seid hier nicht sicher.“

Betroffene beschrieben im Prozess, dass diese Strategie für sie funktioniert habe: Sie vermeiden seit der Tat, den Vorplatz der Staatskanzlei in Erfurt zu betreten. Auch die Art der Tatbegehung zeige sehr deutlich, dass die Täter einen solchen Angriff vermutlich nicht zum ersten Mal begingen. Mit einer enormen Brutalität wurden Betroffene teilweise nach einem Schlag zu Boden gebracht, auf wehrlose Personen wurde weiter eingetreten. In den gezeigten Videoaufnahmen im Prozess wurde deutlich, dass die Angreifer arbeitsteilig vorgingen. Sie übernahmen dabei individuelle Funktionen, sicherten zum Beispiel ab, damit andere zuschlagen konnten oder gaben Signale. 

Abschließend macht Lauß deutlich: „Das Skandalöse ist, dass die Staatsanwaltschaft immer noch sagt, dass diese Hinweise nicht ausreichen, um ein rechtes Tatmotiv festzustellen. Hier wird erneut deutlich, dass eine Schwerpunktstaatsanwaltschaft im Bereich Hasskriminalität, wie sie zum Beispiel in Berlin bereits arbeitet, dringend notwendig ist. Wir fordern die Justizministerin auf, dazu in den nächsten Monaten einen Lösungsvorschlag zu erarbeiten.“ Positiv sei zumindest der Umgang mit den Betroffenen durch das Gericht: Dazu zählt die Verurteilung zweier Täter zu Haftstrafen, sowie das Anerkennen der Betroffenenperspektive in der Urteilsverkündung. Lauß zufolge waren im Laufe des Verfahrens Zeug:innenbeistände und die Nutzung eines Zeug:innenschutzraums ohne Probleme möglich, damit wurden wesentliche Aspekte Betroffenenschutzes gewährleistet.

ezra arbeitet in Trägerschaft der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM). Seit April 2011 unterstützt die Beratungsstelle Menschen, die angegriffen werden, weil Täter*innen sie einer von ihnen abgelehnten Personengruppe zuordnen. Finanziert wird die Opferberatungsstelle über das Bundesprogramm „Demokratie leben!“ und das Thüringer Landesprogramm für Demokratie, Toleranz und Weltoffenheit „DenkBunt“.