Zehn Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU: Opferberatungsstelle ezra sieht massives Defizit durch weiterhin bestehende strukturelle Probleme in Thüringen – Zehn Maßnahmen müssen innerhalb eines Jahres umgesetzt werden

Mit der Selbstenttarnung des NSU am 4. November 2011 wurde eine rechtsterroristische und rassistische Überfall-, Anschlags- und Mordserie öffentlich, bei der über mehrere Jahre hinweg, zehn Menschen ermordet und Dutzende teils schwer verletzt wurden. ezra, die Beratungsstelle für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Thüringen, gedenkt Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat und Michèle Kiesewetter, die durch den NSU ermordet wurden und ist in Gedanken bei den Hinterbliebenen und Überlebenden der rechten Terrorserie und den betroffenen Communities.

Mit der NSU-Selbstenttarnung wurden auch massive strukturelle Probleme, wie in Strafverfolgungsbehörden, Verfassungsschutz und Justiz, insbesondere auch im NSU- Kernland Thüringen, offensichtlich, die die rechte Terrorserie mindestens ermöglicht haben. „Bis heute werden die strukturellen Probleme als ‚Unfall‘, ‚Einzelfall‘ und ‚Versagen‘ verharmlost. Konkrete Maßnahmen, die diesen entgegenwirken könnten, wurden zum großen Teil auch in Thüringen nicht umgesetzt. Dadurch muss man zehn Jahre danach feststellen, dass der Freistaat weiterhin für rechtsterroristische Netzwerke wie dem NSU Rückzugsraum ist, von denen Gewalt und Terror ausgeht“, erklärt Franz Zobel, Projektkoordinator von ezra.

Ein strukturelles Problem ist beispielsweise die vorherrschende Einzeltäter:innen-These, wie sie auch im NSU-Komplex von den Verantwortlichen reproduziert wird und mit der eine Nicht- Verfolgung der dahinterstehenden, rechtsterroristischen Unterstützer:innen-Netzwerke einhergeht. Die katastrophale Folge ist es, dass das NSU-Netzwerk auch in Thüringen teilweise weiterhin aktiv ist. Dieses Problem zeigt sich auch in aktuellen Beispielen, wie dem sog. Ballstädt-Prozess, indem die militante Neonazi-Gruppierung „Turonen/Garde 20“ in den Gerichtsverhandlungen keine Rolle spielte, weil u.a. jeglicher Versuch der Nebenklage- Anwält:innen vom Gericht unterbunden wurde. „Die Perspektive der Betroffenen muss endlich von staatlichen Stellen als Expert:innenwissen anerkannt werden. Das gilt auch als Lehre aus dem NSU-Komplex, in dem die Betroffenen und betroffenen Communities schon frühzeitig auf eine rechte Terrorserie hinwiesen“, macht der Projektkoordinator deutlich.

Aus der Erfahrung in der Arbeit mit Betroffenen rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Thüringen, weiß die fachspezifische Beratungsstelle um viele weitere strukturelle Probleme, wie eine anhaltende Kultur der Straffreiheit für rechte Gewalttäter:innen, die Nicht- Anerkennung von rechten Tatmotiven, sekundäre Viktimisierung durch Strafverfolgungsbehörden und Justiz und institutionellen Rassismus. Zobel fordert die Landesregierung, insbesondere die zuständigen Ministerien für Inneres und Justiz, und alle demokratischen Parteien im Thüringer Landtag dazu auf, „diesen unerträglichen Zustand für die Betroffenen von Rassismus, Antisemitismus und rechter Hetze, Bedrohung, Gewalt und Terror zu beenden. Ein klares Bekenntnis, dass sich der NSU-Komplex nicht wiederholen darf, braucht konkrete Maßnahmen und keine Sonntagsreden.“

Die fachspezifische Opferberatungsstelle sieht in folgenden zehn Maßnahmen den dringendsten Handlungsbedarf, die innerhalb eines Jahres umgesetzt werden müssen, um im elften Jahre nach der NSU-Selbstenttarnung, den strukturellen Problemen bei Strafverfolgungsbehörden und Justiz, entgegentreten zu können:

(1) Die Schaffung einer Schwerpunktstaatsanwaltschaft „Hasskriminalität“;

(2) Der Erlass einer Richtlinie, die dafür sorgt, dass schmutzige Deals von Staatsanwaltschaften mit rechtsmotivierten Gewalttäter:innen ohne explizites Einverständnis von Nebenkläger:innen nicht mehr möglich sind;

(3) Die Einführung einer Verlaufsstatistik bei der Erfassung von PMK-rechts Gewalt- und Tötungsdelikten;

(4) Die Einführung einer Berichtspflicht für Staatsanwaltschaften bei schweren neonazistischen Gewalttaten;

(5) Eine wissenschaftliche Evaluation zur Anwendung von § 46 Abs. 2 S. 2 StGB, § 15 Abs. 5 RiStBV und § 51 BMG (im Zusammenhang mit sog. „Feindeslisten“);

(6) Die Verbesserung des Opferschutzes durch die Benennung eines Opferschutzbeauftragten in der Thüringer Staatskanzlei mit entsprechenden Ressourcen u.a. zur Sicherstellung von geltenden Opferschutzrechten bei Polizei und Justiz;

(7) Die Einführung eines Entschädigungsfonds auf Landesebene für Betroffene von rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt, für eine schnelle, unbürokratische Unterstützung;

(8) Die Polizeivertrauensstelle muss unabhängig werden und mit entsprechenden Ressourcen und Kompetenzen ausgestattet werden;

(9) Die sofortige Umsetzung der Studie zur Überprüfung von Todesopfern rechter Gewalt in Thüringen seit 1990 und eine wissenschaftliche Studie explizit zu institutionellem Rassismus/Diskriminierung bei der Thüringer Polizei;

(10) Die Aufnahme des NSU-Komplexes als fester Bestandteil im Lehrplan der Bildungseinrichtungen der Thüringer Polizei für Ausbildung/Studium und Fortbildungen.

Zudem müssen bis zum Ende der Legislaturperiode die weiteren Empfehlungen der beiden NSU-Untersuchungsausschüsse und der Enquetekommission Rassismus umgesetzt und ein Thüringer Demokratiefördergesetz, zur dauerhaften Absicherung der Demokratieprojekte, eingeführt werden. Der Thüringer Verfassungsschutz muss endlich auf den Prüfstand gestellt werden, weil die Behörde an sich ein strukturelles Problem in der Bekämpfung von Rassismus, Antisemitismus und der extremen Rechten ist, wie sich nicht nur deutlich im NSU-Komplex gezeigt hat.

ezra arbeitet in Trägerschaft der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM). Seit April 2011 unterstützt die Beratungsstelle Menschen, die angegriffen werden, weil Täter*innen sie einer von ihnen abgelehnten Personengruppe zuordnen. Finanziert wird die Opferberatungsstelle über das Bundesprogramm „Demokratie leben!“ und das Thüringer Landesprogramm für Demokratie, Toleranz und Weltoffenheit „DenkBunt“.