Presseerklärung: „Gewaltschutz darf nicht eingekürzt und nicht gestrichen werden!“ – Appell des Thüringer Netzwerks der Beratungsstellen für Gewaltbetroffene

Mit großer Sorge beobachten wir die aktuellen Haushaltsverhandlungen im Thüringer Landtag und das Ringen um einen Haushalt 2024. Die von der Opposition vorgeschlagenen Kürzungen im Haushalt in Millionenhöhe betreffen auch die Versorgungsstrukturen für gewaltbetroffene Menschen in Thüringen. Betroffene sollen im Stich gelassen werden. Folgekosten sind unabsehbar.

Alarmierende Zahlen zu Häuslicher Gewalt in Thüringen: wachsende Versorgungslücken, massive Kürzungen und hohe Folgekosten erwartet

Erst im Juli dieses Jahres musste die Bundesfamilienministerin bekanntgeben, dass laut Bundeslagebild 2022 die Anzahl der Opfer Häuslicher Gewalt in den letzten fünf Jahren bundesweit um 13% angestiegen ist und nun bei 240.547 Betroffenen liegt. Thüringen nimmt dabei im Vergleich der Bundesländer einen unrühmlichen 2. Platz mit einem Anstieg von über 18% von 2021 (3.227 Betroffene) zu 2022 (3.812 Betroffene) ein. Vor diesem Hintergrund ist es völlig unverständlich, dass die CDU in ihrem Haushaltsentwurf einen Teil der Umsetzung der Istanbul-Konvention, die der Thüringer Landtag beschlossen hatte, faktisch aussetzt, indem sie die für 2024 vorgesehenen Mittel für die Beratung und Unterstützung bei geschlechtsspezifischer Gewalt zur Umsetzung der Istanbul-Konvention um 93 % kürzt. Anja Wild, Sprecherin der Landesarbeitsgemeinschaft der Thüringer Frauenhäuser und Frauenschutzwohnungen mahnt: „Die auf Unterstützung angewiesenen Betroffenen (3.812 allein im Jahr 2022) sollen buchstäblich im Stich gelassen werden. Es sollte jedoch allen klar sein, dass eine Kürzung von Mitteln in diesem Bereich das Land Thüringen in Zukunft weit mehr Geld in Form von Polizeieinsätzen, Inobhutnahmen, Krankenhausaufenthalten etc. kosten wird, als jetzt eingespart werden kann.“

Die fast vollständige Kürzung für die Umsetzung von Maßnahmen der auch auf Landesebene rechtsverbindlichen Istanbul-Konvention wird damit begründet, dass diese Maßnahmen zunächst auf Bundesebene umzusetzen sind. „Wir verurteilen die Praxis dieses ‚Verschiebebahnhofs‘ zulasten der von geschlechtsspezifischer Gewalt betroffenen Frauen und Kinder auf Schärfste. Im Vergleich zu anderen Bundesländern befindet sich die strukturierte Umsetzung – im Sinne der Verbesserung der Hilfen und Unterstützung für Frauen als besonders Betroffene von geschlechtsspezifischer Gewalt, geschweige denn der Präventionsmaßnahmen – leider immer noch in der Startphase. Seit Jahren bestehende und immer größer werdende Versorgungslücken für Betroffene von geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt in Thüringen müssen im Sinne der Umsetzungspflicht der Istanbul-Konvention durch den Freistaat endlich geschlossen werden“, erklärt Kathrin Engel von der Landesarbeitsgemeinschaft der Thüringer Interventionsstellen gegen häusliche Gewalt. 

Folge der angespannten finanziellen Situation ist die zunehmende Ungleichwertigkeit der Lebensverhältnisse zwischen Stadt und Land im Bereich der Krankenhausversorgung sowie des Gewaltschutzes für Frauen. Vor allem im ländlichen Raum sind Gewaltschutz- und Hilfsangebote wie Frauenhäuser, Frauenschutzwohnungen und ambulanter Beratungsangebote lückenhaft und wurden im Laufe der vergangenen Jahre reduziert. 

„Die Betroffenen müssen klar im Vordergrund stehen und dafür braucht es professionelle Stellen, die sie beraten, stärken und schützen“, unterstützen die Kolleginnen des Frauenzentrums Brennessel die Ausführungen.

Fachberatungsstelle allerd!ngs vor dem Aus

Die nach zwei Jahren etablierte Fachberatungsstelle allerd!ngs ist einmalig in Thüringen. Sie ist inhaltlich auf Sexarbeit und Prostitution spezialisiert. Sexarbeitende werden zum Prostitutionsschutzgesetz, legaler und sicherer Arbeit beraten, Unterstützung wird auch bei beruflicher Neuorientierung geleistet. Sexarbeitende, die unter verschiedenen Formen von Gewalt leiden, könnten nun eine vertrauensvolle Ansprechstruktur verlieren. „Durch die Streichung der Fördermittel, wird die Isolation, Diskriminierung und Stigmatisierung von Sexarbeitenden gefördert“, erklärt Delia Dancia, Beraterin der Fachberatungsstelle.

Gleichzeitigkeit der Haushaltsverhandlungen im Bund: ezra vor dem Aus

Zeitgleich zur desaströsen Situation in Thüringen hat sich auch die Lage der Haushaltsverhandlungen auf Bundesebene zugespitzt. Bei ausbleibenden Förderzusagen in Form eines vorzeitigen Maßnahmebeginns durch das BMFSFJ steht für Demokratie-Projekte in Thüringen wie die fachspezifische Opferberatungsstelle ezra für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt das Aus zum 1.1.2024 kurz bevor. Franz Zobel, ezra-Projektkoordinator, warnt mit Blick auf die Haushaltsverhandlungen in Thüringen: „Es sollte allen bewusst sein, dass Kürzungen bei den Fachberatungsstellen zur Folge haben, dass viele Betroffene in naher Zukunft keine Unterstützung mehr erhalten werden. Die Betroffenen werden trotz zahlreicher Lippenbekenntnisse von der Politik im Stich gelassen.“ Im letzten Jahr erreichten rechtsmotivierte Angriffe in Thüringen einen Höchststand im unabhängigen Monitoring. Eine weitere Eskalation wird insbesondere im nächsten Jahr im Zusammenhang mit den Kommunal- und Landtagswahlen befürchtet. In den aktuellen Haushaltsverhandlungen auf Landesebene werden im Landesprogramms „Denk Bunt“ Kürzungen verhandelt. Aus diesen Mitteln wird ezra mitfinanziert. Das Ausbleiben haushälterischer Zusagen aus dem Bund wird dramatische Auswirkungen auch auf Thüringen haben. 

Es braucht im Sinne gewaltbetroffener Menschen einen Haushalt für 2024, der professionelle Unterstützungsstrukturen vorhält und absichert. Fachberatungsstellen müssen dringend langfristig ausgebaut werden.

Wir fordern: Keine Kürzungen bei den Beratungsstellen für Gewaltbetroffene!

Unterzeichnet von: 

allerd!ings – Support Sexwork Thüringen
bekom Thüringen – Fachberatungsstelle für Betroffene von Menschenhandel
Brennessel – Zentrum gegen Gewalt an Frauen
elly – Beratungsstelle für Betroffene von Hatespeech in Thüringen
ezra – Beratung für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Thüringen
Frauenzentrum Erfurt
LAG Thüringer Interventionsstellen gegen häusliche Gewalt
LAG der Thüringer Frauenhäuser und Frauenschutzwohnungen
LSBTIQ*-Koordinierungsstelle im Thüringer Landesprogramm für Akzeptanz und Vielfalt
Queeres Zentrum Erfurt 
refugio thüringen e.V. – Psychosoziales Zentrum für Geflüchtete und Überlebende von Folter

Download: Presseerklärung: „Gewaltschutz darf nicht eingekürzt und nicht gestrichen werden!“ – 
Appell des Thüringer Netzwerks der Beratungsstellen für Gewaltbetroffene