Angriff vor der Staatskanzlei in Erfurt: Betroffenenberatung kritisiert Einschätzung der Ermittlungsbehörden und fordert weiterhin Anerkennung des rechten Tatmotivs

Wie durch diverse Pressemeldungen gestern bekannt wurde, schließt die Staatsanwaltschaft Erfurt ein rechtes Tatmotiv bei dem brutalen Angriff vor der Staatskanzlei in Erfurt am 18. Juli 2020 aus. Für die Betroffenen und ezra ist diese Einschätzung nicht nachvollziehbar: „Die ersten Reaktionen der Betroffenen waren von Unverständnis und Enttäuschung geprägt. Nach unserer Einschätzung, die wir anhand festgelegter Kriterien treffen, liegt dem Angriff nach wie vor eine rechte Tatmotivation zugrunde, insbesondere solange kein anderes Tatmotiv einleuchtend von den Ermittlungsbehörden nachgewiesen ist“, sagt der ezra-Mitarbeiter Robert Friedrich. „Zudem ist für uns unverständlich, warum hier ein rechtes Motiv explizit ausgeschlossen wird, ohne die Hintergründe des Angriffs allumfassend zu kennen. Dies ist ein fatales Signal an die Öffentlichkeit, welches die Tat erneut entpolitisiert“, ergänzt der zuständige ezra-Berater.

Ähnlich den Ermittlungsbehörden hat ezra als unabhängige Beratungsstelle streng definierte Kriterien, um rechte Gewalttaten als solche einzuordnen. „Aus langjährigen Erfahrungen mit rechten, rassistischen und antisemitischen Tatmotiven können wir in diesem Fall feststellen, dass die Art der Tatbegehung, also die hemmungslose und unvermittelte Gewaltanwendung, für einen rechten Angriff spricht. Hinzukommt der extrem rechte Hintergrund bei einigen der mutmaßlichen Täter, welche teilweise bereits in der Vergangenheit einschlägig und strafrechtlich in Erscheinung getreten sind. Weiterhin ist für uns als Opferberatungsstelle die Perspektive der Betroffenen für die Einordnung ausschlaggebend“, führt Friedrich weiter aus. Als spezialisierte Beratungsstelle prüft ezra nach Betrachtung der Gesamtsituation, inwieweit ein solches Motiv vorliegt. Die Betroffenenperspektive auf den Tathintergrund ist für ezra häufig nicht nur maßgeblich für die Einordnung, sondern auch entscheidend für die professionelle Zuständigkeit der fachspezifischen Opferberatungsstelle.

Zudem fällt die Berichterstattung des MDR THÜRINGEN erneut mit einer Falschdarstellung und Täter-Opfer-Umkehr bei der Beschreibung der Tat mit „Schlägerei“ bzw. „Massenschlägerei“ auf. „Dass der MDR THÜRINGEN in sozialen Medien durch seine Wortwahl den Tathergang relativiert und damit die Betroffenen eines brutalen Angriffs wiederholt öffentlich als Täter*innen einer auf Gegenseitigkeit beruhenden Auseinandersetzung darstellt, ist skandalös. Hier erwarten wir eine Entschuldigung und mehr Sensibilität für die Betroffenen von der verantwortlichen Redaktion“, fordert Friedrich abschließend. Bereits in der Medienberichterstattung kurz nach dem Angriff wurde eine ähnliche Wortwahl benutzt, die von den Betroffenen massiv kritisiert wurde.

ezra arbeitet in Trägerschaft der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM). Seit April 2011 unterstützt die Beratungsstelle Menschen, die angegriffen werden, weil Täter*innen sie einer von ihnen abgelehnten Personengruppe zuordnen. Finanziert wird die Opferberatungsstelle über das Bundesprogramm „Demokratie leben!“ und das Thüringer Landesprogramm für Demokratie, Toleranz und Weltoffenheit „DenkBunt“.