Studie: Sekundäre Viktimisierung von Betroffenen rechter, rassistischer, antisemitischer und sexualisierter Gewalt – Fokus Polizei und Justiz

Für die hier vorliegende Studie wurde die bisher größte empirische Untersuchung zum Thema sekundäre Viktimisierung von Betroffenen von rechter, rassistischer, antisemitischer und sexualisierter Gewalt durch die Polizei und – erstmalig – durch die Justiz in Deutschland durchgeführt. 

Ausgangspunkt der Studie sind Berichte von Betroffenen von rechter Gewalt – auf Social Media, in der Beratungsarbeit oder in Ermittlungsverfahren – über Erfahrungen einer sekundären Viktimisierung im Kontakt mit Polizei und Justiz. In der vorliegenden Studie wurde sich auf die Erfahrungen von Betroffenen von rassistischer, antisemitischer und sexualisierter Gewalt als Teilbereich rechter Gewalt konzentriert (siehe Abschnitt 2.1). Der Begriff der Viktimisierung leitet sich aus dem lateinischen victima (das Opfer1) ab und beschreibt den Prozess des „Zum-Opfer-Werdens“.

Dabei werden mehrere Ebenen von Viktimisierung unterschieden. Die primäre Viktimisierung bezeichnet die ‚eigentliche Opferwerdung‘, also die Schädigung einer oder mehrerer Personen durch einen oder mehrerer Täter*innen. Eine sekundäre Viktimisierung kann im Anschluss daran entstehen und bezeichnet eine erneute Schädigung der Betroffenen entweder durch Fehlreaktionen ihres sozialen Umfeldes (z. B. durch Freund*innen, Bekannte oder Familienangehörige) und/oder Fehlreaktionen von Instanzen der formellen Sozialkontrolle wie z. B. durch Polizei, Staatsanwaltschaft oder Gericht. 

Hierzu wurde bereits im Jahr 2014 die Studie „Die haben uns nicht ernst genommen“ gemeinsam mit Betroffenen rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Thüringen und der Opferberatungsstelle ezra erarbeitet (Quent/Geschke/Peinelt 2014). Schwerpunkt waren dabei maßgeblich die Erfahrungen von Betroffenen im Umgang mit der Polizei. Um das Themenfeld ausführlicher zu untersuchen, Handlungsbedarfe zu identifizieren und notwendige Gegenmaßnahmen abzuleiten, wurden für die nun vorliegende Studie Einzel- und Gruppen-Interviews mit Betroffenen und Fachexpert*innen sowie eine deutschlandweite Befragung von Betroffenen von rechter, rassistischer, antisemitischer und sexualisierter Gewalt durchgeführt. So konnten wichtige Einblicke in die Erfahrungen mit sekundärer Viktimisierung und die Auswirkungen der Reaktionen von Polizei, Staatsanwaltschaften, Gerichten sowie dem sozialen Umfeld der Betroffenen und Opferberatungsstellen analysiert und systematisiert werden.

82 Prozent der Befragten bemängelten, dass rechte Tatmotive bei den polizeilichen Ermittlungen nicht berücksichtigt wurden, zudem fühlten sich mehr als die Hälfte der Befragten durch Polizeibeamt*innen in ihrer Würde verletzt. Zwei Drittel der Befragten stimmten der Aussage zu, sie seien von Polizist*innen „wie ein Mensch zweiter Klasse“ behandelt worden. Generell wurde die Kommunikation mit der Polizei von 66 Prozent als „schwierig“ empfunden. Besonders gravierend: Immer wieder wurde eine Täter Opfer Umkehr wahrgenommen, mit der den Betroffenen zumindest eine Mitverantwortung an Angriffen zugewiesen wird. Trotz der Unterschiede der Studienteilnehmenden hinsichtlich ihrer Lebensumstände der jeweiligen Gewalterfahrungen sowie der Tatmotive gibt es große Übereinstimmungen in Bezug auf die Erfahrungen mit sekundärer Viktimisierung durch Polizei und Justiz . 

Das Projekt war in allen Phasen durch die Kooperation zwischen dem Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ) und Praxispartner*innen aus den professionellen Opferberatungsstellen (u. a. ezra in Thüringen) und deren Dachverband, dem Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemischer Gewalt (VBRG), gekennzeichnet. Dadurch floss viel praktisches Erfahrungswissen aus der Beratungsarbeit in die wissenschaftliche Untersuchung ein und die Ergebnisse der Studie wurden intensiv diskutiert und validiert. 

Fußnoten und Download

  1. Im juristischen Kontext sind die Bezeichnungen „Opfer“ oder auch „Geschädigte“ verbreitet. Die Beratungsstellen sprechen in der Regel von „Betroffenen“, da der Begriff des „Opfers“ in unserem Sprachraum negativ besetzt ist. Er wird häufig mit Schwäche, Ohnmacht und Hilflosigkeit in Verbindung gebracht und kann stigmatisierend wirken. Der Opferbegriff ist statisch und umfasst nicht die Dimension der Bewältigung von Tatfolgen. Viele Menschen wollen nicht als Opfer bezeichnet werden. Daher werden hier die Bezeichnungen „Betroffene“ und „Angegriffene“ sowie Opferzeug*innen verwendet.   ↩︎