Fachspezifische Gewaltopferberatungsstelle ezra veröffentlicht Jahresstatistik 2023: Rassistische Gewalt bleibt auf sehr hohem Vorjahresniveau – Landkreis Sonneberg erstmals Hotspot rechtsmotivierter Angriffe in Thüringen

Die Pressemappe mit Pressemitteilung und Grafiken gibt es als PDF-Datei hier zum Download. Die Pressemitteilung wird hier zeitnah in weiteren Sprachen aufrufbar sein.

Am heutigen Mittwoch veröffentlichte die fachspezifische Gewaltopferberatungsstelle ezra ihre Jahresstatistik des unabhängigen Monitorings zu rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Thüringen für das Jahr 2023. Es wurden insgesamt 147 Fälle (2022: 186 Fälle) registriert, bei denen mindestens 291 Menschen direkt betroffen oder mit-angegriffen waren. Damit liegt die Zahl der Fälle weit über dem jährlichen Durchschnitt von 117 Angriffen seit dem Bestehen der Betroffenenberatungsstelle in 2011. Rassistische Gewalt bleibt mit 85 Angriffen auf dem sehr hohen Niveau des Vorjahres und ist damit weiterhin das häufigste Tatmotiv. Erstmals ist neben den Städten Erfurt und Weimar der Landkreis Sonneberg ein Hotspot rechtsmotivierter Angriffe in Thüringen.

Zur erschreckenden Kontinuität von rassistischer Gewalt im Freistaat erklärt Theresa Lauß, Beraterin bei ezra: „Nach einer Eskalation in 2016 und 2017 hat rassistische Gewalt in den letzten Jahren eine erneute Verschärfung erfahren. Im Vergleich zu 2022 kam es zu einem deutlichen Anstieg bei Angriffen auf Gemeinschaftsunterkünfte für Geflüchtete. Die Ursache für die erneute Eskalation sehen wir in einer gesellschaftlichen Stimmung, in der sich Rassismus auf Grundlage einer öffentlichen Debatte weiter normalisieren konnte. Die extrem rechte AfD fungiert hier als Stichwortgeberin, auch für Politiker*innen demokratischer Parteien.“ Auch in 2023 wurden durch ezra wieder viele Fälle registriert, in denen Kinder und Jugendliche betroffen waren. Insgesamt waren diese mindestens 85 Mal insbesondere von rassistischer Gewalt betroffen.

Mit 20 registrierten Angriffen ist der Landkreis Sonneberg erstmals ein Hotspot rechtsmotivierter Gewalt im unabhängigen Monitoring der fachspezifischen Gewaltopferberatungsstelle. Franz Zobel, ezra-Projektleiter, sieht die Ursache für den sprunghaften Anstieg in hohen Zustimmungswerten für die AfD und den Erfolg bei der Landratswahl der extrem rechten Partei im vergangenen Jahr: „Hier wird wie unter einem Brennglas sichtbar, wie rechte Gewalt dort zunimmt, wo Täter*innen erkennen, dass ihre Taten eine breite Unterstützung in der Bevölkerung haben. Die als gesichert rechtsextrem eingestufte Höcke-AfD muss mindestens als zentrale Unterstützungsgemeinschaft von rechten Gewalttäter*innen benannt werden. Dadurch ist diese schon jetzt eine konkrete Bedrohung für die durch das Grundgesetz garantierte Menschenwürde und damit für Leib und Leben aller Menschen, die von ihr als Feindbild markiert werden.“

Diese Analyse wird gestützt durch eine repräsentative Studie von Prof.in Dr. Dancygier von der Princeton University. In dieser werden erstmals die Wechselwirkungen von Hasskriminalität und politischen Prozessen in Deutschland untersucht und sogenannte Unterstützungsgemeinschaften für Täter*innen rechtsmotivierter Angriffe identifiziert. Danach unterstützen fast die Hälfte der AfD-Wähler*innen Aussagen wie „Fremdenfeindlichkeit gegen Flüchtlinge ist manchmal gerechtfertigt, auch wenn sie in Gewalt umschlägt“. Darüber hinaus sind der fachspezifischen Gewaltopferberatungsstelle mehrere Fälle aus dem vergangenen Jahr bekannt, in denen AfD-Politiker*innen selbst Täter*innen waren. Eine aktuelle Recherche des Medienhauses CORRECTIV hat zudem aufgezeigt, dass die AfD auf allen Ebenen Mandatsträger*innen duldet, die mit körperlicher, verbaler oder indirekter Gewalt aufgefallen sind.

Angesichts der Höchststände bei Beratungsnehmenden und erbrachten Unterstützungsleistungen der Thüringer Betroffenenberatungsstelle fordert Theresa Lauß abschließend: „Die Förderprogramme auf Bundes- und Landesebene müssen jetzt reagieren und einen langfristigen Ausbau von ezra durch Aufstockung der finanziellen Mittel und die Schaffung einer Regelfinanzierung gewährleisten. Wir sind jetzt schon an einem Punkt, an dem wir nicht mehr in allen Fällen ein zeitnahes Beratungsangebot garantieren können. Wir befürchten weitere Einschnitte, wenn sich die Lage, wie in diesem Jahr zu erwarten ist, weiter zuspitzen sollte.“ Die ezra-Beraterin bekräftigt, dass das natürlich für alle im VBRG e.V. zusammengeschlossenen fachspezifischen Gewaltopferberatungsstellen gelte. Darüber hinaus braucht es einen Ausbau weiterer Beratungsangebote in den Bereichen Demokratieförderung, Antidiskriminierung und Gewalt gegen Frauen bzw. häuslicher Gewalt.

ezra arbeitet in Trägerschaft des re:solut e.V. (Rundum engagiert: solidarische Unterstützung in Thüringen e.V.), einem selbstständigen Werk der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM). Seit April 2011 unterstützt die Beratungsstelle Menschen, die angegriffen werden, weil Täter*innen sie einer von ihnen abgelehnten Personengruppe zuordnen. Finanziert wird die Opferberatungsstelle über das Bundesprogramm „Demokratie leben!“ und das Thüringer Landesprogramm für Demokratie, Toleranz und Weltoffenheit „DenkBunt“.

Weitere Informationen:

Studie „Hate crime supporters are found across age, gender, and income groups and are susceptible to violent political appeals“ von Prof.in Dr. Dancygier (Princeton University): https://www.pnas.org/doi/10.1073/pnas.2212757120

CORRECTIV-Recherche “Gewalt als Alternative”: https://correctiv.org/aktuelles/neue-rechte/2024/04/05/gewalt-als-alternative-14-verurteilte-afd-mandatstraeger-im-amt/

VBRG-Analyse „Besorgniserregende Gewaltbereitschaft bei AfD-Funktionär*innen“: https://verband-brg.de/analyse-gewaltbereitschaft-bei-afd-funktionaer-innen/

Hinweis: 

In die Statistik werden nur die Fälle aufgenommen, bei denen anhand fester Kriterien, die durch den Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt e.V. (VBRG) als Qualitätsstandards gesetzt wurden und die sich an der Definition des Bundeskriminalamts zu „Politisch motivierter Kriminalität – rechts“ orientieren, ein rechtes Tatmotiv erkennbar ist. Nicht alle Fälle, die in der ezra-Chronik veröffentlicht werden, fließen in die Statistik ein und umgekehrt.