Die Pressemappe mit Pressemitteilung und Grafiken gibt es als PDF-Datei hier zum Download.
Die Opferberatungsstelle ezra hat am heutigen Mittwoch (14.04.2021) ihre Jahresstatistik des unabhängigen Monitorings rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Thüringen für das Jahr 2020 vorgestellt. Es wurden insgesamt 102 rechte, rassistische und antisemitische Gewaltstraftaten im Freistaat registriert, von denen mindestens 155 Menschen betroffen waren. Das häufigste Tatmotiv bleibt Rassismus (62 Fälle / 61 Prozent), gefolgt von Angriffen auf vermeintlich politische Gegner*innen (24 Fälle / 24 Prozent). Bei dem Großteil der Angriffe handelt es sich um einfache und gefährliche Körperverletzungen (einschließlich des Versuchs). Ein Todesfall fand Eingang in die Zählung: Ein 52-jähriger Mann wurde in Altenburg am 12. Februar 2020 aus homofeindlichen und sozialdarwinistischen Gründen brutal ermordet. Insgesamt wurden 206 Menschen im Jahr 2020 durch ezra unterstützt.
„Im vergangenen Jahr wurden jede Woche mindestens drei Menschen Opfer rechter Gewalt in Thüringen. Damit besteht weiterhin insbesondere für Menschen, die aus einer rassistischen Ideologie als ‚fremd‘ markiert werden, ein hohes Risiko angegriffen zu werden“, erklärt Franz Zobel, Projektkoordinator von ezra. Im Vergleich zu 2019 (108 Angriffe ohne Nachmeldungen) bleiben die Angriffszahlen auf dem gleichen Niveau. Zudem geht die fachspezifische Beratungsstelle wie jedes Jahr von einer hohen Anzahl von Angriffen aus, von denen weder Ermittlungsbehörden noch ezra erfahren.
Als ein Grund für die hohe Dunkelziffer sieht Zobel die massiven Probleme bei der Strafverfolgung rechtsmotivierter Gewalt unter anderem durch die Thüringer Justiz: „Verfahren werden eingestellt, verschleppt oder das rechte Tatmotiv nicht berücksichtigt. Das hat neben einer enormen zusätzlichen Belastung für die Betroffenen zur Folge, dass sie sich vom Rechtsstaat im Stich gelassen fühlen und resignieren. Diese katastrophale Botschaft wird auch von anderen Betroffenen wahrgenommen und eine Anzeige zum Teil als überflüssig angesehen.“ Als bekanntes Beispiel gilt der sogenannte Ballstädt-Prozess, bei dem die Betroffenen seit über sieben Jahren vergeblich auf eine rechtskräftige Verurteilung der Täter*innen warten.
Die Hochburg rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Thüringen ist laut ezra- Statistik seit Jahren die Landeshauptstadt Erfurt (2020: 29 Angriffe). Im vergangenen Jahr kam es im Südosten der Stadt und vor der Thüringer Staatskanzlei zu brutalen rechten und rassistischen Angriffen durch die lokale Neonazi-Szene. Theresa Lauß, Beraterin bei ezra und zuständig im Team für die Thüringer Großstadt, ergänzt: „In einigen Stadtteilen hat sich über Jahre hinweg ein Angstraum fest etabliert, in denen rechte und rassistische Hetze, Beleidigungen, Bedrohungen und Gewalt zum Alltag gehören. Wir nehmen nicht wahr, dass die Verantwortlichen in Stadtpolitik und städtischen Behörden den Ernst der Lage ausreichend verstanden haben.“
Mit Blick auf das laufende Jahr warnt Zobel abschließend vor einer Eskalation rechter Gewalt im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie und den anstehenden Bundes- und Landtagswahlen: „Die Erfahrungen aus 2015 haben gezeigt, dass mit der Mobilisierung von organisierten Rassist*innen und Neonazis ein massiver Anstieg von rassistischen Angriffen einherging. Eine ähnliche Entwicklung lässt sich bei den sogenannten ‚Corona-Leugner*innen‘ beobachten. Morddrohungen gegen Thüringer Politiker*innen und Angriffe auf Journalist*innen am Rande von Demonstrationen, die von antisemitischen Verschwörungsideologien geprägt sind, deuten auf das hohe Gewaltpotential hin.“
Zum zehnten Mal in Folge hat ezra die Jahresstatistik rechter Gewalt in Thüringen veröffentlicht. In die Statistik werden nur die Fälle aufgenommen, bei denen anhand fester Kriterien, die durch den Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt e.V. (VBRG) als Qualitätsstandards gesetzt wurden und die sich an der Definition des Bundeskriminalamts zu „Politisch motivierter Kriminalität – rechts“ orientieren, ein rechtes Tatmotiv erkennbar ist. Nicht alle Fälle, die in der ezra-Chronik veröffentlicht werden, fließen in die Statistik ein und umgekehrt.
ezra arbeitet in Trägerschaft der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM). Seit April 2011 unterstützt die Beratungsstelle Menschen, die angegriffen werden, weil Täter*innen sie einer von ihnen abgelehnten Personengruppe zuordnen. Finanziert wird die Opferberatungsstelle über das Bundesprogramm „Demokratie leben!“ und das Thüringer Landesprogramm für Demokratie, Toleranz und Weltoffenheit „DenkBunt“.