Auch im Jahr 2016 hat die Zahl rechter und rassistischer Gewalttaten in Thüringen weiter zugenommen. Ezra, die mobile Beratung für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Thüringen, hat in diesem Zeitraum 160 Fälle registriert. Dies entspricht einem Anstieg um mehr als 30 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Direkt betroffen von den Angriffen sind mindestens 277 Menschen.
Nie zuvor wurden in Thüringen so viele Angriffe aus rassistischen Motiven gezählt. So sind 103 Fälle rassistisch motivierter Gewalt registriert worden. Im Verhältnis zum Vorjahr stellt dies eine Steigerung um 90 Prozent dar. Die Zahl der Angriffe auf Menschen, die sich für Geflüchtete oder gegen Neonazis engagieren, ist im Jahr 2016 zwar leicht rückläufig. Jedoch konzentrieren sich die registrierten Fälle stärker als zuvor innerhalb weniger, bestimmter Regionen. So hat ezra 43 Angriffe auf politische Gegner_innen gezählt. Neben der allgemeinen Zunahme von Angriffen konstatiert ezra auch ein Sinken der Hemmschwelle gegenüber schweren Gewaltdelikten. „Es hat eine Brutalisierung der Gewalttaten gegeben. 45 Fälle von gefährlicher Körperverletzung haben wir in diesem Jahr gezählt. Auch die Zahl der Angriffe auf Kinder und Jugendliche hat sich im Vergleich zum Vorjahr von 14 auf 31 Fälle mehr als verdoppelt“, sagt Christina Büttner, Projektkoordinatorin bei ezra. „Die hohe Anzahl rassistischer Angriffe ist erschreckend und zeigt einmal mehr, dass Rassismus längst gesellschaftsfähig geworden ist.“ Dies bestätigt auch Dr. Matthias Quent vom Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft aus Jena: „Offensichtlich ist, dass diese Gewalt Hand in Hand geht mit politischer Polarisierung, extremen Provokationen und gezielten Diskursverschiebungen in der politischen Kultur vor allem durch die AfD. Sie provoziert mit rassistischen und apokalyptischen Bildern und Andeutungen eine Stimmung, die von Gewalttäter_innen als Handlungsaufforderung interpretiert werden kann.“ Die Dunkelziffer von Angriffen dürfte dabei noch wesentlich höher liegen. Gerade Geflüchtete wenden sich nach rassistisch motivierten Angriffen nur selten an Opferberatungsstellen oder die Polizei, wie auch Recherchen des MDR belegen.
Schwerpunktregionen der Arbeit von ezra sind auch im letzten Jahr wieder Erfurt mit 31 Fällen, Saalfeld-Rudolstadt mit 23 Fällen und Jena mit 16 Fällen gewesen. Eine starke Zunahme von Angriffen verzeichnet im Besonderen der Saale-Orla-Kreis. Im Jahr 2015 hat ezra hier lediglich einen Fall erfasst, wohingegen im Jahr 2016 bereits 11 Fälle registriert worden sind, von denen 10 ein rassistisches Tatmotiv aufweisen. Daneben sticht der Landkreis Saalfeld-Rudolstadt durch 16 Angriffe auf politische Gegner_innen hervor. Für Stefan Heerdegen von Mobit erklärt sich dies wie folgt: „In diesem Landkreis haben wir es mit einer sehr aggressiven und jungen rechten Szene zu tun. Diese organisiert sich in der Anti-Antifa-Ostthüringen, die sich darauf spezialisiert hat, gegen als politische Gegner_innen wahrgenommene vorzugehen. Ihnen geht es damit auch um eine Einschüchterung der Zivilgesellschaft, um ungestört im Landkreis agieren zu können.“
Ein großes Problem sieht ezra in der mangelhaften Umsetzung angestrebter Reformen zur Polizeiarbeit. Dies zeigt sich beispielhaft an dem seit Oktober 2015 laufenden Pilotprojekt innerhalb der Thüringer Polizei, das Beamt_innen dazu auffordert, Betroffene von rechten Gewalttaten auf die spezialisierte Beratungsstelle ezra aufmerksam zu machen. Über Betroffene, die bei ezra in Beratung sind, ist bekannt geworden, dass die Polizei nur in wenigen Fällen tatsächlich auf das Beratungsangebot hingewiesen hat. Wenngleich im Koalitionsvertrag auf eine engere Zusammenarbeit von Dienststellen der Polizei mit ezra verwiesen wird, hat sich hier noch nichts verbessert. Gleiches gilt für die konsequente Verfolgung von rechten Straftaten. Gerade Betroffene von rassistischer Gewalt berichten ezra davon, dass sie von der Polizei nicht erstgenommen werden und die Täter_innen nicht konsequent verfolgt würden. „Hieran zeigt sich exemplarisch, dass bestimmte Empfehlungen des Untersuchungsausschusses ‚Rechtsterrorismus und Behördenhandeln‘ noch nicht im Ansatz umgesetzt wurden,“ kritisiert Büttner die Landesregierung.
Im Jahr 2016 haben 184 Personen das Beratungsangebot von ezra in Anspruch genommen. Dabei handelt es sich nicht nur um Beratungsnehmer_innen aus dem letzten Jahr, sondern auch um Betroffene aus vorherigen Jahren, die aus verschiedenen Gründen längerfristig in die Beratungsarbeit von ezra eingebunden sind.
ezra arbeitet in Trägerschaft der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM). Seit April 2011 unterstützt die Beratungsstelle Menschen, die angegriffen werden, weil Täter_innen sie einer von ihnen abgelehnten Personengruppe zuordnen. Finanziert wird die Opferberatungsstelle über das Bundesprogramm „Demokratie leben!“ und das Thüringer Landesprogramm für Demokratie, Toleranz und Weltoffenheit „DenkBunt“.