„Deine Erfahrung zählt!“ – Bundesweite Online-Befragung zu sekundärer Viktimisierung durch Ermittlungs- und Strafverfolgungsbehörden gestartet

Heute startet die bundesweite, quantitative Befragung zu Erfahrungen von Betroffenen rechter, rassistischer, antisemitischer und sexualisierter Gewalt mit Kontakt zu Ermittlungs- und Strafverfolgungsbehörden. Mit der Studie untersucht das Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft Jena das Phänomen der sekundären Viktimisierung von Betroffenen im Rahmen von Ermittlungs- und Strafverfahren. Als sekundäre Viktimisierung wird eine erneute Opferwerdung durch Fehlreaktionen beteiligter Akteur:innen bezeichnet. Beispielsweise, wenn Ermittler:innen bei Verletzten und Opferzeug:innen eine Mitschuld an einer Tat konstruieren. Dadurch können die negativen Auswirkungen der primären Viktimisierung der Betroffenen durch die eigentliche Gewalttat zusätzlich verstärkt werden. Mit der Befragung wird an die 2014 in Thüringen durchgeführte Studie „Die haben uns nicht ernst genommen“ von Matthias Quent, Daniel Geschke und Erik Peinelt angeschlossen, die im Auftrag der Thüringer Opferberatung ezra durchgeführt wurde.

„Bereits bei der ersten Auflage der Studie 2014 zeigten sich massiv die negativen Erfahrungen von Betroffenen im Kontakt mit der Polizei. Etwa die Hälfte der Befragten fühlte sich damals in der Tatsituation durch die anwesenden Beamt:innen nicht ernstgenommen und viele sahen sich mit Vorurteilen konfrontiert“, so Leiter des Projektes Dr. Daniel Geschke (IDZ Jena). Da die Studie lediglich die Erfahrungen mit Polizei in Thüringen erhob, erfolgt die Neuauflage bundesweit und wird zusätzlich die Erfahrungen im Kontakt mit Staatsanwaltschaften und Gerichten untersuchen.

„Mit der Studie wird hoffentlich eine wichtige Lücke geschlossen“, sagt Heike Kleffner vom VBRG e.V.: „Die Frage, welche Erfahrungen Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt im Kontakt mit Polizei, Staatsanwaltschaften und Gerichten machen, wirft ein wichtiges Schlaglicht auf die Alltagspraxis von Institutionen des Rechtsstaats, die dem Schutz von Opfern von Gewalttaten verpflichtet sind.“

In der Beratungspraxis der Thüringer Opferberatungsstelle ezra geht es häufig um negative Erfahrungen von Angegriffenen mit Polizei und Justiz. Theresa Lauß, Beraterin bei ezra, führt zur Relevanz der Studie aus: „Immer wieder berichten uns Beratungsnehmende von diskriminierenden Fragen oder Täter-Opfer-Umkehr bei Vernehmungen und Gerichtsverhandlungen, Bagatellisierungen durch Beamt:innen oder Verweigerung einer Anzeigenaufnahme. Diese Fälle werden durch Behörden oftmals als Einzelfälle konstruiert – die aktuelle Studie soll ein realistisches Bild der Erfahrungen der Betroffenen zeichnen. Dazu gehört auch die Nichtanerkennung eines rechten Tatmotivs im Rahmen von Strafverfahren. Das stellt die Erfahrungen der Betroffenen zusätzlich in Frage“.

Insbesondere marginalisierte Gruppen, wie von Rassismus sowie Antisemitismus betroffene Menschen oder LGBTIQA*-Personen, die ohnehin täglicher Diskriminierung ausgesetzt sind, sind von sekundärer Viktimisierung betroffen. Aus diesem Grund stehen sie im Mittelpunkt der Befragung.

Die Studie wird vom 1. Juni bis zum 31. Juli 2022 durchgeführt und ist unter www.idz-jena.de/umfrage abrufbar. Um den Zugang möglichst barrierearm zu gestalten, steht der Online-Fragebogen in 10 Sprachen zur Verfügung: Deutsch, Französisch, Englisch, Kurdisch, Vietnamesisch, Serbisch, Arabisch, Persisch, Tigrinya und Türkisch.

Volljährige Betroffene, die seit 2016 rechte, rassistische, antisemitische und/oder sexualisierte Gewalt erlebt haben und danach Kontakt mit Polizei oder Justiz hatten, sind eingeladen an der anonymen Online-Befragung teilzunehmen. Multiplikator:innen werden gebeten, für die Teilnahme zu werben. Auf der folgenden Seite stellen wir für Sie entsprechendes Werbematerial zur Verfügung: https://www.idz-jena.de/kampagnenmaterialien-fuer-onlinebefragung-deine-erfahrung-zaehlt.

Durchgeführt wird die Studie vom Jenaer Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ) in Kooperation mit der Thüringer Opferberatungsstelle ezra und dem bundesweiten Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG e.V.). Die Ergebnisse der Studie werden im Rahmen einer Broschüre sowie als Fachvorträge veröffentlicht.

Link zur Befragung: www.idz-jena.de/umfrage

Weiterführende Informationen zum Forschungsprojekt: https://www.idz-jena.de/forschung/sekundaere-viktimisierung-von-betroffenen-rechter-gewalt

Kontaktdaten Ansprechpersonen:

Dr. Daniel Geschke, Leiter der Studie, Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft, Talstr. 84, 07743 Jena, Tel.: 03641/2719402, E-Mail: daniel.geschke@idz-jena.de

Theresa Lauß, Beraterin, ezra – Beratung für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Thüringen, Juri-Gagarin-Ring 96/98, 99084 Erfurt, 0361/21879361, E-Mail: theresa.lauss@ezra.de

ezra arbeitet in Trägerschaft der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM). Seit April 2011 unterstützt die Beratungsstelle Menschen, die angegriffen werden, weil Täter:innen sie einer von ihnen abgelehnten Personengruppe zuordnen. Finanziert wird die Opferberatungsstelle über das Bundesprogramm „Demokratie leben!“ und das Thüringer Landesprogramm für Demokratie, Toleranz und Weltoffenheit „DenkBunt“.