40 Monate nach dem Angriff auf Journalisten in Fretterode beginnt der Prozess am Landgericht Mühlhausen: Konsequente Strafverfolgung gegen militante Neonazi-Schläger darf kein Lippenbekenntnis mehr bleiben – Aufruf zur solidarischen Unterstützung der Betroffenen

Am Dienstag, dem 07. September wird nach über drei Jahren am Landgericht Mühlhausen der brutale, bewaffnete Angriff auf zwei Journalisten bei Fretterode verhandelt. Die beiden Betroffenen wurden bei Recherchen im Wohnumfeld des Neonazis und NPD-Funktionärs Thorsten Heise aus dessen Haus heraus von zwei Tätern mit Schraubenschlüssel und Messer angegriffen und schließlich mit dem Auto verfolgt. Die Journalisten trugen dadurch erhebliche Verletzungen davon. Die Neonazis raubten den Betroffenen zudem ihre Fotoausrüstung und zerstörten ihr Auto.

„Im Hinblick auf die verschleppten Verfahren und die skandalösen Urteile in Prozessen gegen militante Neonazis wie z.B.im Ballstädt-Verfahren haben sowohl die Betroffenen, deren Nebenklagevertreter als auch wir keine allzu hohen Erwartungen an das Gericht“, erklärt Theresa Lauß, die zuständige Beraterin bei ezra. „Bereits im Verlauf des Verfahrens zeigte sich das inkonsequente Handeln der Strafverfolgungsbehörden – der Fall Fretterode steht wie viele andere rechte und rassistische Angriffe exemplarisch für das Justizproblem in Thüringen.“ Trotz eindeutiger Zeugenaussagen und Fotos der Täter, wurden nach der Tat beispielsweise keine Haftbefehle ausgesprochen, durch Aussagen der Staatsanwaltschaft in der Öffentlichkeit wurde sogar die Glaubwürdigkeit der Betroffenen in Frage gestellt. Auch in den letzten Tagen wurde Täter-Opfer-Umkehr deutlich – laut Medienberichten geht die Polizei aufgrund solidarischer Kundgebungen vor Ort von Störungen aus und kriminalisiert damit die Unterstützer:innen der beiden betroffenen Journalisten.

 „Es ist zudem ein Skandal, dass dieser brutale, bewaffnete Angriff, den die Betroffenen nur durch Glück überlebt haben, immer noch nicht als versuchtes Tötungsdelikt eingeordnet wird. Das ist hochgefährlich und verkennt auch die Dimension militanter, organisierter Neonazistrukturen, aus denen diese Tat begangen wurde“ führt Lauß weiter aus. „Das Netzwerk, in dem sich Thorsten Heise und seine Unterstützer:innen bewegen, konnte aufgrund des inkonsequenten Handelns der Strafverfolgungsbehörden jahrelang ungestört wachsen.“ Das „Justizwunder“ Heise wurde beispielsweise in Recherchen der Plattform EXIF im Zusammenhang mit dem NSU-Unterstützerumfeld sowie der Neuformierung des deutschen Combat-18-Netzwerks genannt und fiel auch in jüngster Vergangenheit mit öffentlichen Gewaltandrohungen gegen politische Gegner:innen auf.

Auch die beiden Angeklagten sind schon jahrelang in der regionalen Neonaziszene aktiv. Heises Sohn Nordulf sowie Gianluca B. sind und waren laut einschlägiger Recherchen sowohl in Freien Kameradschaften als auch Parteistrukturen organisiert und in der Vergangenheit bereits an Übergriffen beteiligt. Die ezra-Beraterin erklärt: „Dass die reale Gefahr besteht, dass die Täter erneut ohne angemessene Strafen davon kommen, lässt nicht nur die Betroffenen des Angriffs in Fretterode verständnislos und wütend zurück, sondern auch alle anderen, die von rechter und rassistischer Gewalt betroffen sind.“ Journalisten, die als erklärtes Feindbild von Neonazis dienen und sich bei der Ausübung ihrer Arbeit der Lebensgefahr aussetzen, werden hier vom Rechtsstaat im Stich gelassen. „Das ist symptomatisch für die Strafverfolgung gegenüber rechten Gewalttätern. Es braucht endlich mehr als nur Lippenbekenntnisse, wenn es um die Aufklärung und Bekämpfung militanter, organisierter Neonazistrukturen geht“, erklärt Lauß abschließend.

Die nächsten Termine sind für den 09. und 13. September angesetzt, nach derzeitigem Stand soll das Gerichtsverfahren nach insgesamt elf Prozesstagen voraussichtlich am 18. Oktober enden. Damit die Angeklagten und deren Umfeld nicht auch im bzw. vor dem Gerichtssaal einen Angstraum schaffen können, wird zur kritischen Prozessbeobachtung und -begleitung aufgerufen. Da aufgrund geringer Platzkapazitäten und des großen öffentlichen Interesses vermutlich kaum Unterstützer:innen in den Saal gelassen werden können, sind für die Prozesstage Kundgebungen vor dem Puschkinhaus (Puschkinstraße 3, 99974 Mühlhausen) angemeldet, auf denen man sich solidarisch mit den beiden betroffenen Journalisten zeigen kann. Weiterführende Infos zum Angriff und zum anstehenden Verfahren finden sich auf https://tatort-fretterode.org/.

ezra arbeitet in Trägerschaft der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM). Seit April 2011 unterstützt die Beratungsstelle Menschen, die angegriffen werden, weil Täter*innen sie einer von ihnen abgelehnten Personengruppe zuordnen. Finanziert wird die Opferberatungsstelle über das Bundesprogramm „Demokratie leben!“ und das Thüringer Landesprogramm für Demokratie, Toleranz und Weltoffenheit „DenkBunt“.